Leseproben Schattenzeichen

Zweifelnd suchte ich Raffaels Blick. „Dir ist schon klar, dass wir August haben und die gefühlte Außentemperatur immer noch bei beinahe 77 °F liegt? Hast du die Grippe oder warum schürst du diese Höllenhitze in der Bude?“
McConnor grinste anzüglich, was mich hätte vorwarnen müssen. Manchmal war ich bemerkenswert arglos, was das betraf. Statt einer Antwort warf er mich quer über seine Schulter und trug mich hinauf in unser Schlafzimmer. Mein Liebster schien diesen Transportweg absolut zu bevorzugen. Da ich bereits einmal vergeblich versucht hatte, mich gegen diesen Rückfall in die Steinzeit zur Wehr zu setzen, ließ ich mich kampflos von ihm abschleppen. Raffael stieß mit einem Fuß die Tür auf, trug mich durch das Schlafzimmer und ließ mich behutsam aufs Bett sinken. Dann gab er der Zimmertür einen Stoß, sodass diese mit einem Knall ins Schloss fiel. Die Gluthitze, die in diesem Raum herrschte, stellte die Wärme im Untergeschoss locker in den Schatten. Obwohl ich ein reichlich wärmebedürftiges Individuum war, trieben mir diese Temperaturen die Schweißperlen auf die Stirn. Ich kämpfte mich mühsam aus der weichen Matratze in eine halbliegende Position und stütze mich auf meine Ellbogen ab. Interessiert betrachtete ich meinen Liebsten, der aus dieser Perspektive heraus eine beeindruckende Ansicht bot.
„Was ist nun, Vampir. Benötigt dein unsterblicher Metabolismus zeitweise Kochtopftemperaturen oder willst du mich einfach nur in den Wahnsinn treiben?“
„Mir würde es überhaupt nicht gefallen, wenn dir kalt wird“, erklärte mein Schotte. „Um dem vorzubeugen, habe ich die örtlichen Wärmequellen genutzt. Außerdem ist das Kaminfeuer ausnehmend romantisch. Findest du nicht auch?“
Ich sah mich möglichst unauffällig um. Die Vorhänge waren zugezogen, Kerzen angezündet. Nicht vier oder fünf, sondern bestimmt dutzende. Raffael hatte die Schleifen der Betthimmel gelöst, so dass sich diese locker um die Pfosten bauschten. Eine Flasche Champagner stand in einem Kühler neben dem Bett bereit, nebst dazugehörigen Gläsern. Verwirrt blickte ich zu meinem Romantiker auf. „Gibt es etwas zu feiern? Hast du Geburtstag oder so etwas?“
„Nein“, erwiderte Raffael grinsend. „Mir ist nur eine Idee gekommen und ich hoffe, die Umsetzung wird dir Vergnügen bereiten.“
Verflixt. Mir wurde etwas mulmig zumute. Das hier sah verschärft nach einem Verführungsversuch aus. Dabei war unser Nachholbedarf an sinnlichen Momenten durchaus in ausreichender Anzahl befriedigt worden.
„Hast du etwas für Experimente übrig, mo chride?“, fragte er und ließ seine Stimme noch ein paar Tonlagen weiter absinken. Dieses dunkle honigwarme Timbre holte meine Schmetterlinge aus ihrem Tiefschlaf und versprach kommende körperliche Eskapaden. Ich schluckte an einem Kloß im Hals und konnte nur nicken.
„Nun gut. Kannst du dann einmal das tun, um das ich dich bitte?“
Stumm gab ich mein Einverständnis. Ich war gespannt, erregt, verwirrt und leicht verängstigt.
Raffael lächelte entspannt. Er hatte mein Gefühlschaos natürlich registriert. Er befreite mich nach und nach von meinen Schuhen, öffnete den störrischen Knopf meiner Jeans und zog aufreizend langsam den Reißverschluss herunter. Als ich mich aufsetzen und mich von meinem Beinkleid befreien wollte, schüttelte er nur den Kopf und übernahm diesen Job selbst. Sanft aber unnachgiebig drückte er mich zurück in die Kissen. Raffael setzte sich zu mir auf das Bett und ließ seine Hände über meinen Körper wandern. Meine Bluse hatte gefühlt tausend Knöpfe. Jedenfalls ließ er sich unendlich viel Zeit, um einen nach dem anderen zu öffnen. Mir stockte der Atem, als seine Finger, wie zufällig, leicht meine Haut berührten. Mein Blut schien zu kochen und meine aufsässigen Schmetterlinge probten den Aufstand in meinem Unterleib.
McConnor hatte es nicht eilig. Er streifte mir meine Bluse über den Kopf. Als ich jedoch Anstalten machte, sie vollends abzustreifen, hinderten seine Hände mich daran. So, hilflos gefangen durch die zugeknöpften Manschetten meiner Blusenärmel, musste ich erleben, wie meine restliche Unterwäsche denselben Weg wie die Jeans und Schuhe nahmen.
„Bleib so. Ich bin gleich wieder da“, flüsterte er mir heiser vor Begehren ins Ohr.
Was sollte das? Er verschwand einfach, während mein Körper nach Raffaels Berührungen gierte. Mein Herz schlug laut und unregelmäßig und mein Atem wurde hektisch. So nackt und ausgeliefert auf diesem riesigen Bett, präsentiert wie ein Schmuckstück in seiner seidenen Schatulle, überkam mich ein seltsames Gefühl. Beklommen und erregt zugleich.
Raffael konnte nur wenige Minuten fort gewesen sein und seine Rückkehr ließ mich sämtliche Bedenken vergessen. Er hatte sein Oberhemd ausgezogen und stand nun mit freiem Oberkörper am Fußende. Wie immer konnte ich mich an diesem Spiel der Muskeln unter seiner sonnengebräunten Haut nicht sattsehen. Gemächlich schälte er sich auch noch aus seiner Lederhose und stellte sich nun vollkommen unbekleidet vor mich.
„Schließ die Augen, Cathleen“, raunte er leise.
Ich versuchte noch einen Blick auf diesen Alabasterkörper zu erhaschen, kam dann jedoch, nach einem strafenden Seitenblick, missmutig seiner Aufforderung nach. Als Raffael sich zu mir setzte, riss ich die Augen wieder auf.
„Nicht doch, mein Engel. Vertrau mir.“
Widerstrebend stimmte ich zu.
Heiße Lippen liebkosten jeden Zentimeter meines Körpers. Knabberten von meinen Handgelenken hinunter zu meiner Ellenbeuge und verursachten eine heftige Gänsehaut, als seine Zähne kurz über diese zarte Haut schabten.
„Bitte Raffael …“, wisperte ich, bebend vor Verlangen.
„Still.“ Er legte seinen Zeigefinger auf meine Lippen, verschloss vehement meinen Mund, nur um gleich darauf langsam und genussvoll die Konturen meiner Unterlippe nachzuzeichnen.
Erbarmungslos wanderte seine Zunge, seine Lippen über meine Schultern, hinunter bis zu meinem Bauch in weiter südlich liegende Gefilde, hinterließen ein brennendes Inferno. Es kostete mich von Minute zu Minute mehr Überwindung, still und mit geschlossenen Augen liegen zu bleiben. Ich brauchte Raffael, um meine wachsende Begierde zu stillen.
Er hatte sich jedoch eine Überraschung der besonderen Art überlegt. Der Kontakt mit etwas Eiskaltem ließ mich panisch zusammenzucken. Ich kreischte erschrocken auf und schnappte nach Luft. Vorwurfsvoll sah ich auf und begegnete seinem mitternachtsblauen Blick, in dem sich rückhaltloses Begehren abzeichnete. Dann entdeckte ich den Ursprung dieser eisigen Gefühlseruption. Eis. Himbeereis, um genau zu sein. In Raffaels Augen blitzte ein dämonisches Grinsen auf. Ich blinzelte und versuchte mich aufzusetzen. Da fühlte ich, wie sich seine Hand auf meine Lider legte und meine Augen erneut verschloss. Sanft folgten seine Finger dem Verlauf des schmelzenden Eises und setzten meine Haut in Brand. Ich wölbte mich seinen Berührungen unwillkürlich entgegen. Ungeduldig und bebend vor Begierde.
Ohne jede Vorwarnung hörte er plötzlich auf. Ich spürte, wie er das Bett verließ. Kurze Zeit darauf war er wieder zurück. Während ich noch immer rücklings auf dem Bett lag und mit den Ärmeln meiner widerspenstigen Bluse kämpfte, die meine Hände fest umschlossen, vernahm ich ein charakteristisches Schüttelgeräusch. Neugierig geworden linste ich durch den dichten Wimpernkranz, der meine Augen beschattete. Raffael hatte sich breitbeinig über meine Oberschenkel gekniet und rang offenbar angestrengt mit den tückischen Errungenschaften der modernen Lebensmittelindustrie. Just in diesem Augenblick gewann mein Liebster den Kampf mit der Sprühdose. Fassungslos riss ich die Augen auf und blickte in die tiefen Abgründe eines ziemlich abgefeimten Unsterblichen.
„Hatte ich dich nicht gebeten die Augen geschlossen zu halten?“, tadelte er mich.
Ich schluckte angespannt. Meine Blicke folgten wie gebannt seinen Bewegungen. Erneut schüttelte er die Sahnedose. „Das wagst du nicht …“, begann ich atemlos und sah, wie sich sein Gesicht zu einem hinterhältigen Grinsen verzog. Doch. Er wagte es. Zischend schoss die Sahne aus der Düse und hinterließ milchig weiße Spuren auf meinem zappelnden Körper. Bevor ich mich unter Raffael herausrollen konnte, um weiteren Verzierungen zu entgehen, ließ sich mein spielfreudiger Liebhaber mit seinem vollen Gewicht auf mein Becken sinken und nagelte mich förmlich auf der Matratze fest. Hilflos musste ich nun mit ansehen, wie Sahnehäubchen für Sahnehäubchen meine Haut bedeckten. Um das Maß vollzumachen, drückte Raffael noch je eine Himbeere auf die süße Leckerei. Befriedigt setzte er sich zurecht und betrachtete sein Kunstwerk. Das schmelzende Himbeereis vereinigte sich mit der Sahne und den Himbeeren zu einem süßen Nachtisch und lief auf meiner glühenden Haut hinunter.
Bevor ich weiter lamentieren konnte, verschloss mir Raffael kurzerhand mit einem besitzergreifenden Kuss die Lippen und ich ergab mich.
„Sachte, mein Herz. Schließ die Augen und fühle“, flüsterte er heiser in mein Ohr.
Und ich fühlte. Intensiv wie vielleicht nichts anderes zuvor. Ich spürte Kälte, die sich auf der Glut meiner Haut erwärmte und an meinen Körper hinablief. Eisige Flüssigkeit sammelte sich in meinem Bauchnabel, floss weiter und verteilte sich schmelzend über meine überhitzte Haut. Kalte, prickelnde Spuren legend. Mein Körper vibrierte. Eiseskälte und glühende Hitze paarten sich, ließen mich vor Erwartung erzittern. Dann war da Raffaels Mund. Seine Lippen, seine Zunge folgten der Bahn, die die Flüssigkeit genommen hatte. Mein Körper bäumte sich auf. Hektisch versuchte ich mich von dieser fesselnden Bluse zu befreien, was mir jedoch unglücklicherweise misslang. Ich wand und drehte mich unter seinen Liebkosungen.
Endlich hatte ich mich von den Fesseln meines Kleidungsstücks gelöst und schmiegte mich nunmehr rachsüchtig an meinen Liebhaber der süßen Genüsse. Bevor er sich versah, drehte ich den Spieß um. Ich rollte ihn auf den Rücken und setzte mich rittlings auf ihn. Fragend blickte er mich an. Mit einem boshaften Grinsen revanchierte ich mich. Sahne war schließlich noch genügend da. Kichernd malte ich ein Sahneherz auf seine muskulöse Brust und arbeitete mich langsam und genüsslich weiter hinunter. Ich legte eine Sahnespur, dem schmalen Streifen dunkler Haare folgend, die von seinem Nabel abwärts verlief. Raffaels Muskeln verkrampften sich, unwillkürlich entfuhr ihm ein Stöhnen. Bevor ich jedoch das Objekt meiner Begierde ebenfalls verzieren konnte, hielten mich seine Hände zurück.
Komische Verzweiflung stand in seinen tiefblauen Augen. „Du wirst doch nicht …“, begann er entsetzt. Ich schenkte ihm ein niederträchtiges Lächeln. Seine Hände, die mich umklammerten, schüttelte ich ab und vollendete mein Werk. Ein ersticktes Keuchen belohnte meine Bemühungen, das sich noch verstärkte, als meine Zunge den Sahnespuren folgte. Seine Haut war verführerisch glatt und weich über den festen Muskelsträngen, schrie geradezu nach meinen Berührungen. Raffael schien einem Herzinfarkt nahe, als ich meine Lippen zu Hilfe nahm. Bevor er jedoch irgendwelche Dummheiten begehen konnte, setzte ich mich auf und ließ mich langsam und genussvoll auf ihn sinken. Raffaels Körper bäumte sich unter mir auf, als ich ihn tief in mir aufnahm. Seine Muskeln waren gespannt wie Bogensehnen. Die Hände umfassten meine Taille, gaben schließlich den Rhythmus vor. Langsam öffnete er seine Augen. Sein Blick verriet Erstaunen, das sich jedoch übergangslos in glühende Leidenschaft verwandelte, als unsere Bewegungen heftiger wurden. Unsere Haut gab schmatzende Geräusche von sich, als sich unsere Körper schließlich vereinigten. Die Flamme der Begierde verzehrte uns, ließ uns miteinander zu einem Ganzen verschmelzen.
Müde räumte Eleonor ihren Schreibtisch auf. Es war wieder einmal entsetzlich spät geworden. Wenn ihr Chef unterwegs war, türmten sich die Akten und ihr Arbeitspensum war kaum zu bewältigen. Marco hatte ihr bereits mehrfach ins Gewissen geredet, in seiner Abwesenheit die Hilfe von Abigail in Anspruch zu nehmen, die extra für diese Notfälle bereitstand. Eleonor hatte jedoch, wie üblich, nur mild gelächelt und sich an die Arbeit gemacht. Es war bedeutend besser bis zum Umfallen zu arbeiten, als allein zu Hause zu sein. Dort würde ihr doch nur die Decke auf den Kopf fallen. Marcos Sekretärin war Mitte vierzig, die modische Kurzhaarfrisur sowie ihre zierliche Figur ließen sie jedoch wesentlich jünger erscheinen. Große dunkelbraune Augen, die immer ein bisschen traurig aussahen, erinnerten an Walt Disneys Bambi. Dieser erste Eindruck täuschte jedoch. Unter dieser zarten Hülle steckten ein eiserner Wille und eine Durchsetzungskraft, die ihres Gleichen suchte. So mancher von Marcos Klienten war bereits auf Granit gestoßen. An Eleonor kam niemand vorbei, der nicht angemeldet war. Sie nahm die Handtasche, griff nach ihrer Jacke und sah sich noch einmal um. Stille umgab sie.
Das große Bürogebäude verschluckte tagsüber eine große Anzahl von arbeitenden Menschen, die seine Mauern mit Leben und Bewegung erfüllten. Am Abend spuckte das große, gläserne Büromonster alle seine Insassen wieder aus und entließ sie in die Nacht. Dann waren seine Räume still und dunkel, als schien das Haus für den nächsten Ansturm von wuselnden Menschen und ihre Gespräche Atem und Kraft zu holen. Eleonor liebte diese Stunde, wenn sie ganz für sich war. Nur Marcos Wachdienst patrouillierte in den Gängen, wenn sie dann endlich das Büro verließ. Sie betrat den Warteraum zu Marcos Kanzlei und prallte überrascht zurück. Ein Mann saß auf einem der bequemen Sessel, die ihr Chef für seine Mandanten beschafft hatte.
„Mein Gott, haben Sie mich erschreckt. Was sitzen Sie denn hier im Dunkeln herum? Es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, zu gehen. Mister McConnor ist nicht da. Bitte melden Sie sich morgen früh noch einmal, dann können wir gern einen Termin ausmachen.“
Ein leises, heiseres Lachen kam als Antwort. „Ich brauche keinen Termin. Ich komme wegen dir, Eleonor.“
Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, blieb ihr in der Kehle stecken. Diese Stimme kannte sie nur zu gut. In all den Jahren, die vergangen waren, konnte sie sich noch immer an die Kälte erinnern, die diese Stimme ausstrahlte. Zitternd fuhr ihre Hand zum Lichtschalter. Obwohl sie bereits wusste, wer in diesem Sessel vor ihr saß. Bevor ihre Finger jedoch ausführen konnten, was sie sich vorgenommen hatten, legte sich bereits die Hand ihres späten Besuchers auf ihre bebenden Finger und machte Licht. Die Sekretärin hatte beinahe vergessen, mit welcher Schnelligkeit Vampire ihren Standort wechseln konnten. Denn ohne Zweifel stand ein solcher nun unmittelbar hinter ihr. Sein riesiger Körper bedrängte sie, hinderte sie, sich zu bewegen, sich umzudrehen. Seine Finger gruben sich in ihre Haare, zwangen ihren Kopf in den Nacken. Genüsslich schnupperte der ungebetene Gast den Duft ihrer Angst, der sie umfing wie ein zu enges Korsett. Fuhr mit seinen Lippen ihren Hals hinab und verharrte provokativ an ihrer Halsschlagader. Eleonor fing haltlos an zu zittern, was den Blutsauger merklich erheiterte. Er spielte ein bösartiges Spiel mit ihr und ihrer Furcht. Seine Hände glitten unter ihre Jacke und strichen prüfend über ihren Körper. Sie erstarrte unter seinen Berührungen, die sie bewegungsunfähig machten. Noch immer wurde ihr der Blickkontakt verwehrt. Sie wusste jedoch auch, ohne zu sehen, um wen es sich handelte. Als wäre es ihr möglich gewesen, ihn jemals zu vergessen. Nicht einen einzigen Tag in den vergangenen Jahren. Die Arbeit bei Marco McConnor hatte die Dämonen, die seit jener Nacht vor beinahe zwanzig Jahren ihre täglichen Begleiter waren, im Zaum gehalten. Die Familie McConnor hatte ihr damals geholfen, über die entsetzlichen Ereignisse hinwegzukommen. Hatte ihr die Möglichkeit gegeben, die grausamen Schatten ihrer Vergangenheit in einen licht- und luftleeren Raum ihres Bewusstseins zu sperren und mit einem riesigen Schloss zu verschließen. Dexters Anwesenheit hier in diesem Büro sprengte mühelos den Riegel und entließ ihre Dämonen in die Freiheit. Ohne Umstände war sie wieder von ihnen umfangen und die Erinnerungen an jenen Abend brachen mit brachialer Wucht über Eleonor herein. Sie biss ihre Zähne zusammen und schwieg.
„Hast du mir gar nichts zu sagen? Ich dachte eigentlich, dass es üblich ist, dass sich alte Bekannte herzlich begrüßen? Willst du mir gar nichts anbieten?“ Dexter zog die Sekretärin noch näher an sich, leckte genüsslich über ihren Hals. „Du erlaubst, dass ich mir selber etwas zu trinken nehme?“ Lustvoll strichen die Spitzen seiner Reißzähne über ihre Kehle, bevor er beinahe spielerisch zubiss. Wollüstige Schauer durchzuckten seinen Körper, als das heiße, süße Blut seine Lippen benetzte, die Geschmackknospen der Zunge zum Explodieren brachte und wie ein perlender Gebirgsbach seine dürstenden Venen durchströmte. Pure Lebendigkeit, überschäumende Ekstase – nur durch den Lebenssaft dieses Menschenkindes. Für einen Augenblick ließ es Dexter zu, dass seine primitiven Triebe die Oberhand über seinen Intellekt behielten. Er gab sich der Sinnlichkeit des Moments hin, die nicht nur die reinen Bedürfnisse seines Körpers befriedigte, sondern seinen Geist mit sprudelnder Lebensfreude erfüllte. Er löste sich nur ungern von diesem warmen Lebensspender. Seine ungesättigte Seele schrie gepeinigt auf, als er bald, viel zu bald von seinem Opfer abließ.
Die Lichtkrieger waren elende Heuchler, wenn sie diesem unbeschreiblichen Genuss freiwillig entsagten.
Eleonor zitterte wie Espenlaub, ihre Knie gaben fast unter ihr nach, aber sie schwieg weiterhin beharrlich. Sie stand bewegungslos da. Folgte mit den Augen, in denen als Einziges noch ein wenig Leben zu brennen schienen, den langsam fallenden Tropfen ihres eigenen Blutes. Sie blendete ihre Umgebung vollständig aus. Mit einer Art morbider Faszination beobachtete sie den Fall der perfekten kleinen Tröpfchen, die auf dem weißen Marmorfußboden aufschlugen und dort zerplatzten – aufplatzten. Aufplatzten, um in einem vollendet harmonischen Neubeginn etwas völlig anderes zu erschaffen. Sie glichen einer, sich wie im Zeitraffer aufblühenden Lotusblüte, die ihre glühendroten Blütenblätter der Sonne darbot. Sie blinzelte ein paar Mal, um sich von diesem skurrilen Bild loszureißen. Ihre zitternde Hand fuhr automatisch an ihren Hals, die winzigen Bissmale waren jedoch bereits wieder geschlossen, die Blutung hatte aufgehört. Fassungslos hob sie die Augen zu ihrem Peiniger.
Dexter leckte sich die Lippen. Seine Augen ließen Eleonor wissen, wie hauchdünn der Pfad war, der zwischen Leben und Tod lag. „Deine Mutter war eine echte Lady – vorher. Leider hatten ihre unflätigen Ausdrücke danach überhaupt nichts Damenhaftes an sich. Heilige Verzückung. Was für eine Sprachvielfalt. Ein waschechtes Teufelsweib“, erinnerte er sich anerkennend. „Tja und dein Töchterchen, Candy, das war doch ihr Name, nicht wahr?“, brutal drehte Dexter ihr das Messer der Erinnerungen in der aufgebrochenen Wunde herum. „Eine wahre Süßigkeit. Sie hat ihrem Namen wirklich Ehre gemacht. Ich kann immer noch den Geschmack dieser Leckerei auf der Zunge spüren“, schwärmte er genießerisch.
Bei der bloßen Erwähnung ihrer Tochter wurde Eleonor bleich wie die Wand. Ihre Hände krallten sich krampfhaft um den Griff ihrer Handtasche, sie wankte leicht. Seit beinahe zwanzig Jahren hatte sie sich verboten auch nur an ihre kleine Tochter zu denken, geschweige denn sie beim Namen zu nennen. Candice. Lieber Gott, sie war damals gerade erst fünf Jahre alt gewesen.
„Kräftige Lungen hatte die Kleine ja, das muss man ihr schon lassen“, zollte Dexter ihr Respekt.
Das war zuviel. Eleonor verlor ihre nach außen aufrechtgehaltene Fassung und stürzte sich wutentbrannt auf den Schattenkrieger. „Nimm ihren Namen nicht in dein dreckiges Maul, du Monster“, schrie sie aufgebracht.
„Na also. Es geht doch“, grinste Dexter zufrieden. „Wie ich sehe, erinnerst du dich an mich. Ich dachte schon, es wäre möglich gewesen, dir deine Erinnerungen an diese anregende Erfahrung zu nehmen, was wirklich schade gewesen wäre.“
Eleonor kaute auf ihrer Unterlippe herum, um sich zu sammeln. Dieser Bestie in Menschengestalt wollte sie nicht die Genugtuung geben, zu erleben, wie sie ihre Fassung verlor. Sie benötigte all ihre Kraft, ihre Fassade wieder aufzurichten.
„Du bist doch nicht hier, um mich mit meiner Vergangenheit zu quälen, Dexter“, gab sie kühl mit mühsam beherrschter Stimme zur Antwort. „Was willst du von mir?“
„Also weißt du, es zeugt von schlechter Erziehung, unsere Unterhaltung so abrupt zu beenden. Wenn dir allerdings daran gelegen sein sollte, auf den Kern der Sache zu stoßen, soll es mir recht sein: Verrate mir den Aufenthaltsort von Raffael McConnor. Ich will von dir wissen, unter welchen Stein er und seine kleine Prophetin gekrochen sind, um sich vor mir zu verbergen“, bekannte Dexter endlich Farbe. Man meinte die Spannung, die sich urplötzlich aufgebaut hatte, mit Händen greifen zu können. Seine Stimmung wechselte abrupt. „Du wirst mir des Weiteren sagen, wo ich Lynn finde. Diese verfluchte Schlampe hat mich mehr gekostet als jemals ein Weib vorher“, grollte Dexter wütend. In diesem Augenblick ließ ihn seine berüchtigte, selbstgefällige Contenance, hinter der er ansonsten seine Gefühle verbarg, schmählich im Stich.
Eleonores Gesicht wurde starr. „Du glaubst doch nicht wirklich, ich würde meine Retter so schändlich verraten? Ich verdanke der Familie McConnor alles. Sie haben mir wieder zurück ins Leben geholfen. Ohne sie wäre ich meiner Mutter und meiner Tochter schon längst in den Tod gefolgt.“

Frohgemut öffnete ich die Tür und blieb überrascht in selbiger stehen. Ein panischer Aufschrei empfing mich. Der Raum war abgedunkelt, die Gardinen vor den einfallenden Sonnenstrahlen zugezogen. Mein Eintreten hatte einen breiten Streifen Sonnenlicht mit in den Raum gebracht, vor dem der junge Vampir, den wir vergangene Nacht aufgegabelt hatten, fluchtartig zurückwich. Die missbilligenden Blicke der beiden ebenfalls anwesenden Lichtkrieger maßregelten mich. Schulterzuckend machte ich kehrt und wandte mich der blubbernden Kaffeemaschine zu, die eine freundliche Seele zum Laufen gebracht hatte. Ich schenkte mir eine dampfende Tasse Kaffee ein, gab einen Hauch von Milch hinein und schnappte mir einen Kaffeelöffel. Gemächlich drehte ich mich zu der kleinen Versammlung von Unsterblichen um. In aller Seelenruhe rührte ich in meiner Kaffeetasse herum, bevor ich abwesend hochsah.
„Was ist?“, fragte ich, erstaunt über die Blicke, von denen ich mich geradezu erdolcht fühlte. „Stör ich euch etwa?“ Etwas verschnupft fügte ich hinzu: „Ich kann ja auch wieder gehen.“
„Nein, lass nur“, erwiderte Raffael rasch. „Wir sind beinahe fertig. Du solltest nur die nächste Zeit nicht ganz so stürmisch einen bis dato geschlossenen Raum betreten. Unser Kleiner hier ist um ein Haar tausend Tode gestorben, als es abrupt hell wurde.“
Ich blinzelte ein wenig konsterniert. „Ähm Raffael. Ich will ja nicht oberlehrerhaft klingen, aber dürfte ich dich daran erinnern, dass just dieser entzückende Kleine heute Nacht versucht hat, uns um die Ecke zu bringen?“
Das jungenhafte Gesicht zu einem wenig anziehenden Grinsen verzogen, wandte sich Joey kopfschüttelnd mir zu. „Na du bist mir vielleicht eine nachtragende Tussi. Dein Alter hat mir gerade angeboten bei eurer Gang mitzumachen und …“
Egal was er sonst noch von sich geben wollte, wurde durch eine schallende Ohrfeige Gregorys brutal unterbunden. „Ich glaube, dieses Thema hatten wir bereits vor wenigen Stunden durchgekaut. Wie kann jemand, der so jung ist, derartig vergesslich sein. Pass gefälligst auf deine Wortwahl auf, wenn du mit einer Lady sprichst.“
„Hey“, maulte der junge Vampir. „behandelt man etwa so seine Verbündeten?“
Ich verdrehte amüsiert die Augen gen Himmel. „Langsam hege ich die Vermutung, du sammelst abtrünnige Schattenkrieger, Raffael. Wenn du so weiter machst, werden wir einen ganzen Tross von Unsterblichen hinter uns herziehen, die allesamt auf Lebendfutter angewiesen sind. Hast du dir schon einmal über die Ernährung Gedanken gemacht.“
„Da spricht doch eindeutig die Hausfrau aus dir. Meine Mutter hat auch immer gestöhnt, sobald ich mich über den Kühlschrank hergemacht habe. Damals, als ich noch kein Vampir war, meine ich. Du erinnerst mich voll an meine Mum“, schwärmte Joey erfreut über meinen Einwurf.
Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Solltest du es jemals wagen, Mama zu mir zu sagen, werde ich dich pfählen“, drohte ich ihm.
„Is‘ gut, Mum“, war seine irgendwie zu erwartende Antwort. Ich war natürlich offensichtlich zu langsam für diesen zu groß geratenen Welpen. Seine Vampirgeschwindigkeit verhinderte jegliche Vergeltungsmaßnahme meinerseits. Bevor ich ihn aufhalten konnte, umrundete er den Esstisch und riss die Tür zum Wohnzimmer auf. Man musste ihm zugutehalten, dass er sich keinerlei Schrecksekunde erlaubte. Nur ein Zehntel einer Sekunde war er dem Sonnenlicht ausgesetzt, das den angrenzenden Raum erhellte. Genau dieser winzige Moment genügte, um beinahe sofort die Küche mit dem beißenden Geruch angebrannten Fleisches und versengter Haare zu erfüllen.
Zutiefst verstimmt drehte er sich zu uns um. Seine Haut leuchtete in einem allerliebsten Feuerrot und sein Kopfputz stand ihm wirr und noch leicht schwelend vom Kopf ab. Sein Anblick war so komisch, dass ich mir ein unziemliches Kichern nicht verkneifen konnte. Böse blinzelte er zu mir herüber. „Welcher Idiot hat die Vorhänge aufgezogen? Um ein Haar hättet ihr einen Aschehaufen von eurem guten Teppich saugen müssen“, keifte er erbost.
„Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“, konterte ich belustigt.

Letzte Aktualisierung vom: 6. November 2018